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Der andere Reisebericht uk-flage

 

Anm:: Nichts ist so vergänglich wie ein Reiseführer oder ein Reisebericht. Wenn ein Reisebericht allerdings über 100 Jahre alt ist, hat er einen ganz anderen Stellenwert, und gibt Einblicke in die Zeit der "muselmanischen Verwaltung" bzw. Besetzung um 1900.

(Quelle: Ein Besuch auf der Insel Telos, Globus, Jan. 1900) Aus "GLOBUS" Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde, Herausgeber: Richard Andree 77 Band, Druck und Verlag Friedrich Vieweg und Sohn 1900

Ein Besuch auf der Insel Telos 

Von Friedrich v. Vincenz.  Smyrna

Abseits der Postdampferlinie etwa 80 km westlich der Stadt Rhodus, liegt die Insel Telos, heute Tilos oder italienisch Piscopi, einsam und verlassen in der blauen Flut des Ägäischen Meeres. Kein Postdampfer, kein Handelsdampfer läßt je seinen Anker vor Telos fallen und selbst die Verbindung durch Segler nach Symi oder Rhodus hin ist spärlich, nur dem dringendsten Bedürfnisse angemessen.

 

Das Eiland selbst ist stark gebirgig und, wie die meisten Inseln des Ägäischen Meeres, kahl, von jener bemitleidenswerten Kahlheit, die den aufmerksamen und naturliebenden Reisenden in diesen Gegenden -- die Küste nicht ausgeschlossen -- auf die Dauer zur Verzweiflung bringt. Man sucht den täglich sich immer wieder aufdrängenden Vergleich: was muß dieses Land im Altertume bei reicher Bewaldung für ein wahres Paradies gewesen sein, und was ist es heute? Vor uns steht ein kahles Eiland, eine kahle Küste, zeugend von stets wachsender Verwahrlosung und orientalischer lndolenz.

 

Ein größeres und ein kleineres Thal bieten allein Gelegenheit und Möglichkeit zur Bodenkultur, sonst ist Berg und Hang und Halde kahl, und nur im Frühjahre von Herden von Bergziegen bevölkert, deren orientalischer "Gaisbub" sich die Zeit mit der Rohrpfeife vertreibt, die heute noch dieselbe Form aufweist, wie sie im klassischen Altertume als Attribut des Pan verbildlicht wurde (mehrere Rohrstücke von verschiedener Länge, durch ein Querholz festgehalten).

 

Die beiden Thäler zeugen von einer sehr tiefgehenden Bodenkultur, bei der auch das kleinste benutzbare Fleckchen nicht vergessen wurde. Gerste, Feigen, Mandeln und Nüsse sind die Hauptkulturen, dazwischen Ölbäume, Aprikosen und Pfirsiche. Gerste und Oliven dienen dem Hausbedarfe für Brot und Öl, während in Mandeln und Nüssen eine kleine Ausfuhr besteht. Jüdische Händler kaufen alljährlich für Spottpreise die geernteten Mandeln und Nüsse auf. Mühe und Arbeit verbleibt den armen, fleißigen Tiloten, der Gewinn den spaniolischen Juden von Rhodus.

Die Bevölkerung der Insel ist durchaus griechisch, und außer dem Memour (kleiner Regierungsbeamter) dürfte sich wohl kein zweiter Muselmann auf der ganzen Insel befinden. Die Bevölkerungsziffer erreicht nicht 1000. An Ortschaften ist nur der eigentliche Flecken Telos im Nordwesten und noch ein kleiner Weiler im Westen der Insel zu nennen. Das Städtchen Telos liegt gute 20 Minuten vom Meere am Berghange, das fruchtbare Thal zu seinen Füßen Der Flecken ist ärmlich und ganz orientalisch mit flachen Dächern gebaut. Die Straßen sind so eng, daß man dieselben sehr bequem von Dach zu Dach mit einem Brette überbrücken kann. Will man also
vom Dache aus zu seinem Nachbar über die Straße, so legt man einfach das Brett zum Nachbardache und spart sich sodoppelt das Treppensteigen

Hinter dem Städtchen steigt der Fels jäh zu einem einsamen Bergkegel auf, dessen enger Gipfel von den Resten eines genuesischen Kastells gekrönt ist. Da die Bodenkultur der Insel zu beschränkt ist, um die ganze Bevölkerung zu ernähren, so geht im Frühjahre ein großer Teil der männlichen Bevölkerung nach der anatolischen Küste hinüber, um dort als Feldarbeiter dürftigen Erwerb zu finden. Ist im Herbste die Ernte eingebracht, so kehren die Leute in die Heimat zurück, um den Winter bei den eigenen Penaten zu verträumen. Auch ein Teil der weiblichen Bevölkerung folgt dem Beispiele der Männer. So findet man auf den benachbarten größeren Inseln Symi und Rhodus häufig Frauen von Telos, die als Tagelöhnerinnen die mannigfachsten Arbeiten verrichten.

Frauen von Telos
Das Abgelegensein und die fehlenden Verbindungen haben auf Telos Trachten und Gebräuche in wunderbarer Treue bewahrt Wie es vor 100 Jahren und noch viel früher dort war, so ist es auch heute noch. Die Männer tragen die durch nichts hervorstechende Tracht der heutigen Inselgriechen, aber schon beginnt bei ihnen leider das Jacket a la franca die kurze gestickte orientalische Jacke zu verdrängen. Zu meinem Bedauern mußte ich auch schon auf Telos das Vorhandensein einer fränkischen Jacke feststellen.

Die den Frauen von Telos eigentümliche Tracht ist noch von keinem fränkischen Schnitte durchbrochen. Groß wie Klein hält fest an dem Althergebrachten, und wie sehr bei uns dem Frauengemüte der Wechsel der Mode als etwas hoch Erquickliches erscheint, so fest bewahrt die Tilotin die alte Tracht, die sie mit vier Jahren zu tragen beginnt und mit der sie in den Sarg gelegt wird.

Wenig vorteilhaft und ansprechend ist die Werktagstracht der Frauen. Lange Stiefel und eine bis zum Knie reichende, dunkelbraune Kutte mit Kapuze gegen Sonne und Kälte, das ist alles! Ganz anders zeigen sich aber die Tilotinnen an Sonn- und Festtagen, deren es bei den Griechen eine Unmenge giebt. Verschwunden ist die unschöne, braune Kutte, um einer reizenden, außerordentlich schmucken und kleidsamen Tracht Platz zu machen. Man konnte meinen, daß über Nacht aus den unscheinbaren braunen Puppen ebenso viele schöne Schmetterlinge ausgekrochen seien.

Der lange Stiefel ist bei der Sonntagstracht beibebalten, es ist aber eben ein Sonntagsstiefel von weichem gelblichem Leder mit derber Sohle und niedrigem Absatze (sogen. Kretenserstiefel).

 

Die Grundfarbe der Tracht ist weiß, der Stoff Leinwand oder Baumwolle; sie besteht aus einem einfachen faltigen Rocke, der bis zum Knie reicht, und unter dem der ebenfalls weiße Unterrock eine gute Handarbeit, hervorsieht. Im Gegensatze zu dem ganz einfachen Oberrocke ist der Unterrock unten mit einer sehr gefälligen dunkelroten Borde besetzt und außerdem noch bunt gestickt. Die blousenartige Taille ist von demselben weißen Stoffe wie der Rock und hat weite Ärmel bis zum Handgelenk, deren Bund wieder durch einen dunkelroten Besatz gebildet wird. Auf der Brust befindet sich ein vom Halse mehr oder weniger tief herabreichender Ausschnitt, der durch bunte kunstreiche Stickerei, meist in Schwarz, Rot und Grün, ausgefüllt ist, auf dem die mit großer Vorliebe getragenen Schaumünzen, sowie bunten Halsgehänge in Glas und Bernstein hängen. Auf dem Rücken der Taille befindet sich ein zweiter viereckiger, bis zum halben Rücken reichender Ausschnitt, der durch ein Stück hellfarbiger Seide ausgefüllt ist. Um diesen Rückenausschnitt laufen zwei bis drei Finger breite

Handstickereien in der Art der Stickerei des Brusteinsatzes, welche an der Achsel ansetzen. Die dunkelrote, den Halsabschluß bildende Kragenborde stimmt im Muster mit der Borde des Unterrockes und der Ärmel. Großen Reiz trotz seiner Einfachheit verleiht dieser Tracht der Taillenschluß, der in einem weichen, dunkelroten, mehrfach um den Leib geschlungenen Wollgürtel besteht.

Außerordentlich originell und kleidsam ist die Kopftracht. Der Vorderkopf wird bedeckt durch ein dunkelrotes oder braunes, gemustertes Tuch, hinter dem sich eine steife Spitzhaube aus Plüsch aufbaut. Über Kopftuch und Spitzhaube wird ein großes weißes Tuch getragen, welches stets mehr oder weniger reich mit bunter Stickerei verziert ist. Das Tuch ist entweder offen, über den Rücken herabhängend, oder wird mit unter dem Halse verknüpften Enden getragen.

An Festtagen und des öfteren auch an Sonntagen versammelt sich die Frauenwelt von Telos am Abend bei der Kirche, um mit seltener Ausdauer, bis zum frühen Morgen, einem höchst originellen und uralten Tanze obzuliegen. Der Tanzboden ist ein freier, mit hübschem Kieselmosaik gepflasterter Platz gleich neben der Kirche, die Beleuchtung liefern zwei große, auf Stöcken befestigte Prozessionslaternen der Kirche, die der "Papas" seinen Pfarrkindern gerne zu ihrer Lustbarkeit zur Verfügung stellt.

Der Tanz ist ein Ringelreigen, bei dem die Tänzerinnen, 40 bis 80 an der Zahl, sich derart anfassen, daß jede Tänzerin ihre rechte Hand über die Brust hin ihrer linken, ihre linke Hand ebenso ihrer rechten Nachbarin reicht u. s. w. Die Spitze des Zuges wird durch zwei bis drei männliche Vortänzer gebildet. Die sehr einfache Musik befindet sich in der Mitte des Platzes.

Zu Beginn des Tanzes ordnen sich die Tänzerinnen wie oben angegeben, verkettet, um den freien Platz, Gesicht nach der Mitte. Die Musik fällt ein, und der erste der Vortänzer beginnt seine grotesken Wendungen, Schritte und Sprünge, indem er sich langsam und seinen Nachbar, den zweiten Vortänzer, nie loslassend, nach rechts im großen Kreise des Ringelreigens bewegt. Ihm folgen die beiden anderen Vortänzer und die Frauen. Die Tanzbewegung der Frauen besteht nun aus folgenden, mit tadellosester Genauigkeit ausgeführten Schritten: 1/2 Schritt vorwärts, 1 Schritt rechts zur Seite, 1/2 Schritt rückwärts u. s. w. u. s. w.

Das Gesamtbild der Tracht ist ein Überaus freundliches, ohne im geringsten schreiend zu sein, oder den Eindruck des Zusammengewürfelten zu machen; es ist graziös und beeinträchtigt durch nichts die Körperform. Die Tracht ist übrigens nur der Insel Telos eigentümlich, denn auf all meinen Fahrten habe ich weder in der Nachbarschaft, noch im weiteren Umkreise Kleidungen gefunden, die denen von Telos auch nur ähnelten.

Alter Inselgrieche von Telos

Vier Stunden lang ohne andere Abwechslung diesen Tanz zu tanzen, muß ein absonderliches Vergnügen sein! Thatsache ist es aber, daß sich die Tänzerinnen herrlich dabei unterhalten, denn ungemischte Freude strahlt aus aller Augen. Der ganze außer Frage stehende außerordentliche Reiz des Tanzes für den Zuschauer liegt neben der Tracht in folgendem:

Die Bewegung des Tanzes ist eine doppelte. Der ganze Schritt rechts zur Seite sorgt für die Weiterbewegung der Tänzerinnen im Reigen, während die halben Schritte vor- und rückwärts gleichzeitig eine sehr regelmäßige, anmutige, wogende Bewegung in die Tanzenden bringen. Die lange Reihe der Tänzerinnen scheint bei längerem Zuschauen völlig zu schweben. Es ist höchst unterhaltend zu sehen, mit welcher Genauigkeit die Schritte ausgeführt werden, und wie nie eines der vielen Kretenserstiefelchen aus dem Takte kommt.

Plötzlich schweigt die Musik, und zum Tanze gesellt ich der Gesang. Während der Tanz in etwas verlangsamtem Tempo ohne Musik weitergeht, singen sich dabei die einander gegenüberstehenden Tänzerinnen Trutzreime zu, alt hergebrachte wie improvisierte. Der Kehrreim wird von allen Tänzerinnen mitgesungen.

Als ich in später Nacht über steinige Pfade nach dem Anlegeplatze des Dampfers zurückkehrte, glaubte ich zu träumen, noch unter dem Banne des letzten Aktes einer großen Feenoper zu stehen, so reizvoll, lieblich und natürlich war das Bild, welches ich zu ewig freundlicher Erinnerung mitnahm. Armes, aber glückliches Inselvölkchen in deiner Abgeschiedenheit, fern vom Hader und Hasten der großen Welt!

Zum Schlusse verbleiben mir noch zwei Beobachtungen von Telos nachzutragen.

Wie schon erwähnt, ist in den beiden wenig umfangreichen Thälern jeder Zoll breit Erde zur Bodenkultur herangezogen. Aus diesem Grunde hat man es auch für eine Verschwendung des kostbaren Bodens gehalten, einen Kirchhof anzulegen. Als Ersatz hat man einige einfache Hohlräume in Mauerwerk aufgeführt, in welche die Leichen bei der Bestattung gebracht werden. Dort verbleiben sie, bis kein Platz mehr vorhanden ist, worauf die Angehörigen aufgefordert werden, die Reste abzuholen und bei sich unterzubringen.

Auf Telos ist es ferner uralt hergebrachte Sitte, das die älteste Tochter das ganze Vermögen erbt, ohne das auch nur eine Abfindung der übrigen Geschwister stattfände. Infolge dieses Brauches verheiratet sich allermeist auch nur die älteste Tochter, denn im Orient ist die Heirat bei weitem mehr Geschäfts- wie Herzenssache. Hat nun z. B. die

 sich verheiratende älteste Tochter und zukünftige Erbin noch drei bis vier andere Schwestern, so folgen ihr diese gleich oder später beim Tode der Eltern ins Haus, um der älteren, allein begüterten Schwester als Mägde zu dienen, und dem Manne - also ihrem Schwager - als Kebsweiber zur Verfügung zu stehen!

Wohl läutet die Glocke allsonntäglich vom Kirchturm und Kloster, wohl müht sich der Priester, dem Mißbrauch zu steuern, es thut Bischof und Patriarch sein Bestes, hierin Wandel zu schaffen, und selbst die türkische Regierung hat sich ins Mittel zu legen versucht. Zur Kirche gehen Tilot und Tilotin regelmäßig und fromm; der alte Brauch aber bleibt.


 

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Zuletzt aktualisiert am Montag, 31. Oktober 2016 um 16:45 Uhr